Henriette Kretz zieht Neuwieder Oberstufenschüler mit ihrer dramatischen Kindheitsgeschichte in den Bann – Eintrag ins Buch der Stadt
(Fotos: Stadt Neuwied / Ulf Steffenfauseweh) Als ihre Eltern erschossen werden, ist Henriette neun Jahre alt. Sie rennt und rennt. Sie hört Schüsse, hört, wie die Rufe von Vater und Mutter ersterben. Sie rennt und rennt.
Henriette Kretz flüchtet. Die Nazis – schon auf dem Rückzug befindlich – hatten sie und ihre Familie ins Vernichtungslager schleppen wollen. Das Kind entkommt und ist „einsam und allein“, wie die kleine, verletzlich wirkende Frau acht Jahrzehnte später sichtlich bewegten Oberstufen-Schülerinnen und -Schülern beider Neuwieder Gymnasien erzählt.
(von links) RWG-Direktor Helmut Zender, Stefanie Roth (Maximilian-Kolbe-Werk), Zeitzeugin Henriette Kretz, Bürgermeister Peter Jung, Valérie Jülich-Albeck (Leiterin Landesschule für Blinde und Sehbehinderte), WHG-Direktor Frank Michael Strauss, Walter Sefrin (2. Vorsitzender Deutsch-Israelischer Freundeskreis Neuwied) und Kreis-Beigeordneter Philipp Rasbach.
Die hören seit fast zwei Stunden wie gebannt ihrer Geschichte zu, die mit einer unbeschwerten Kindheit beginnt und sich nach dem Überfall der Deutschen so dramatisch verändert, dass sie für Nachgeborene kaum mehr vorstellbar ist: Erst flieht die Familie ins damals sowjetisch besetzte Lemberg (Lwiw), doch die Nazis holen sie 1941 ein, siedeln sie ins jüdische Ghetto um. Ständig ist sie in Gefahr, mehrmals gelingt es ihrem Vater, die Familie mit Hilfe von Bekannten oder durch Bestechung vor der Ermordung zu retten. Immer wieder müssen sie sich verstecken – bis die Nazis sie schließlich auf einem ihrer Todestrecks mitschleifen wollen.
Eintrag: Henriette Kretz trug sich auf Bitten von Neuwieds Bürgermeister Peter Jung ins Buch der Stadt ein.
„Ich verstand, dass ich jetzt Waise und ganz alleine war. An wen sollte ich mich wenden? Ich konnte ja von Jedem jederzeit verraten werden“, erinnert sich Henriette Kretz an die fast ausweglose Situation nach ihrer Flucht. Denn für die Nazis ist sie als polnische Jüdin ein Untermensch. Und wer einem Untermenschen hilft, der riskiert nichts weniger als sein eigenes Leben. „Trotzdem haben es Menschen gemacht. Und sie haben mein Vertrauen in die Menschheit gerettet“, sagt die 90-Jährige heute und erzählt von Celina, einer katholischen Ordensschwester, die ihr in einem Waisenhaus Unterschlupf gewährt. Dort überlebt sie tatsächlich den Krieg.
Seit rund 20 Jahren nun sucht Henriette Kretz als Mitglied des polnischen Vereins „Kinder des Holocaust“ und als Botschafterin des Maximilian-Kolbe-Werks das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen im Land der damaligen Täter. „Hass hat nie etwas gebaut. Hass hat nur zerstört. Ich will verstehen“, sagt sie als eine der letzten, noch lebenden Zeitzeuginnen und gibt den jungen Neuwiederinnen und Neuwiedern mit, „dass Demokratie auch ihre Fehler hat, aber das Beste ist, was wir haben“. Sie macht deutlich, „dass man Grenzen nicht schließen kann, weil Menschen immer fliehen werden, wenn sie nicht gut und frei leben können“. Und sie unterstreicht: „Unsere Erde gehört niemandem. Sie ist für alle. Für Tiere, Pflanzen und Menschen. Wenn wir das verstehen, haben wir eine gute Chance, zu überleben“.
Henriette Kretz: Henriette Kretz beeindruckte die Schülerinnen und Schüler des Rhein-Wied- und des Werner-Heisenberg-Gymnasiums mit der Erzählung ihrer Kindheitsgeschichte.
Als die Schüler nach ihren Worten applaudieren, lächelt sie nur und meint verschmitzt: „Klatschen Sie nicht. Ich bin keine Lady Gaga. Das ist keine Vorstellung, das ist ein Gespräch.“ Und deshalb beantwortet sie gern die Fragen der Schüler, etwa ob sie nach diesen Erfahrungen noch an Gott glauben kann oder in der aktuellen politischen Entwicklung Parallelen zur damaligen Zeit sieht. Als RWG-Direktor Helmut Zender in seiner kurzen Abmoderation am Ende feststellt, „dass es keiner weiteren Worte mehr bedarf“, widerspricht niemand. Und so bleibt es Bürgermeister Peter Jung nur noch, Henriette Kretz zu bitten, sich in das Buch der Stadt einzutragen. Eine Ehre, die sie Neuwied gern erweist.
„Ihr müsst die Erinnerung weitertragen“
80 Jahre nach Ende der Nazi-Terrorherrschaft sind Menschen, die den Holocaust selbst erleben mussten und ihre eigene Geschichte erzählen können, selten geworden. Deshalb haben Neuwieds Bürgermeister Peter Jung, Kreis-Beigeordneter Philipp Rasbach sowie die beiden Schulleiter Helmut Zender (RWG) und Frank Michael Strauss (WHG) nur zu gern die Gelegenheit ergriffen, als die Leiterin der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte, Valérie Jülich-Albeck, anbot, Kontakt zu Henriette Kretz und dem Maximilian-Kolbe-Werk herzustellen. „Die nächste Generation wird eine solche Gelegenheit nicht mehr bekommen. Ihr müsst diese Erfahrungen daher weitertragen. Hass, Hetze und Ausgrenzung dürfen in unserer Gesellschaft nie wieder Platz haben“, rief sie am Ende den rund 150 versammelten Oberstufenschülerinnen und -schülern zu.