Land fördert „Housing First“-Projekt in Neuwied
- Foto: Lena Geisler - Frostige 3 Grad minus zeigte das Thermometer vor gut zwei Wochen als Dörte Schall und Lana Horstmann gemeinsam bei der Neuwieder Caritas eintreffen. Die rheinland-pfälzische Ministerin für Arbeit, Soziales, Pflege, Transformation und Digitalisierung und die Neuwieder Landtagsabgeordnete werden in der Deichstadt von schönstem Winterwetter begrüßt – sonnig bei wolkenlos blauem Himmel. Doch der schöne Schein trügt: Für obdachlose Menschen, die sich einen Großteil des Tages und häufig auch über Nacht draußen aufhalten, kann dieses Wetter lebensgefährlich sein.
Die Neuwieder Caritas kümmert sich um diese „Menschen wie du und ich, bei denen ein, zwei Schicksalsschläge dazu geführt haben, dass sie sich nicht länger auf der „Sonnenseite des Lebens befinden“, wie Neuwieds Bürgermeister Peter Jung den Weg vieler Obdachloser skizziert.
Ministerin Dörte Schall (vorne, 3.v.l.) und die Landtagsabgeordnete Lana Horstmann (2.v.l.) ließen sich bei ihrem Besuch der Caritas von beteiligten Neuwieder Akteuren um OB Jan Einig (vorne links), Jobcenter-Geschäftsführer Theo Krayer (vorne, 2.v.r.), Arbeitsagentur-Chefin Stefanie Adam (vorne rechts), 1. Kreisbeigeordneter Philipp Rasbach (hinten links), Caritas-Direktor Eberhard Köhler (hinten, 2.v.l.) Bürgermeister Peter Jung (hinten Mitte) und Helmut Hecking als Vertreter der Wirtgen-Stiftungen (hinten, 2.v.r.) das Housing First-Projekt vorstellen, das in der Deichstadt seit über drei Jahren erfolgreich praktiziert wird. Foto: Lena Geisler
Was versteht man unter dem Housing First-Ansatz?
Die Grundidee von Housing First ist denkbar simpel: Menschen ohne festen Wohnsitz erhalten die Möglichkeit, bedingungslos eine eigene Wohnung anzumieten. Das funktioniert ganz niederschwellig – ohne bürokratische Hürden oder sonstige Voraussetzungen, die im Vorhinein zu erfüllen wären. Vielmehr steht die eigene Wohnung – der ganz persönliche und geschützte Rückzugsort – am Anfang eines Prozesses, der die Betroffenen wieder in die Gesellschaft integrieren will. „Mir war direkt klar, dass das funktionieren wird“, erklärt Janin Timm. Für die Sozialpädagogin der Neuwieder Caritas ist Housing First eine absolute Herzensangelegenheit, der sie sich voll und ganz verschrieben hat. „Wenn Menschen einen Ort haben, an dem sie erst einmal zur Ruhe kommen können, erkennen und kommunizieren sie ihre Wünsche und Ziele für die persönliche Zukunft bald von ganz allein“, spricht Timm aus ihrer Erfahrung in der Praxis. Rund 300 Menschen nehmen die verschiedenen Angebote der Neuwieder Wohnungslosenhilfe des Caritasverbandes Jahr für Jahr in Anspruch. Erfolge würden sich aber von Mensch zu Mensch unterschiedlich schnell einstellen. Deshalb ist es entscheidend, geduldig zu sein und die betroffenen Menschen längerfristig zu unterstützen.
Neuwied setzt bei Wohnungslosenhilfe auf kontinuierliche Kooperationen
Ein Schlüssel zum Erfolg in der Neuwieder Wohnungslosenhilfe liegt in der kontinuierlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit verschiedener lokaler Akteure. „Die regelmäßigen Treffen des Runden Tisches der Wohnungslosenhilfe führen zu einem gegenseitigen Verständnis der Beteiligten und zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen“, berichtet Olga Scott, Fachteamleiterin der Wohnungslosenhilfe. Seit fast 30 Jahren engagiert sich der Caritasverband in der Wohnungslosenhilfe in Neuwied. 2019 wurde gemeinsam mit den Sozialämtern von Stadt- und Kreisverwaltung sowie der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter die Initiative „MAP“ (Menschen auf öffentlichen Plätzen) ins Leben gerufen. „Nach einer ersten Stabilisierung und Normalisierung der Lebensumstände im vertrauten Umfeld der eigenen vier Wände können wir Betroffenen so den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert“, erläutern Jobcenter-Geschäftsführer Theo Krayer und Stefanie Adam, Leiterin der Neuwieder Arbeitsagentur. Für die erfolgreiche Umsetzung des Housing First-Projektes braucht es zunächst aber vor allem eins: geeigneten Wohnraum. Hier kommen die Wirtgen-Stiftungen ins Spiel, die vor mehr als drei Jahren auf die Neuwieder Caritas zugekommen sind, um ihre Hilfe bei der Unterstützung obdachloser Menschen anzubieten. Fünf Wohnungen haben die Stiftungen in der Deichstadt inzwischen für das soziale Reintegrationsprojekt angekauft – und damit den Start des Neuwieder Housing First-Projekts überhaupt erst möglich gemacht.
Im intensiven Austausch: Die am Housing First-Projekt beteiligten Neuwieder Akteure diskutierten mit Dörte Schall und Lana Horstmann über den Status quo und die Zukunftsaussichten für das Hilfsangebot der Neuwieder Wohnungslosenhilfe. Foto: Felix Banaski
Housing First in Neuwied – Schon jetzt ein Erfolgsmodell
Neuwieds Oberbürgermeister Jan Einig ist vom langfristigen Erfolg des Housing First-Projektes in der Deichstadt überzeugt: „Housing First bedeutet einen Gewinn für die gesamte Stadtgesellschaft. Es unterstützt Menschen in persönlichen Notlagen dabei, wieder in ein geordnetes Leben zurückzukehren.“ Auch der erste Kreisbeigeordnete Philipp Rasbach lobt den gemeinsamen Weg, der in Neuwied im Umgang mit dem Problemfeld „Obdachlosigkeit“ bereits gegangen wurde und hebt die große Bedeutung der umfassenden Hilfsangebote für betroffene Menschen hervor. Diese bereitzustellen ist zentraler Bestandteil des Neuwieder Ansatzes, der „den Menschen in den Mittelpunkt rücken will“, wie Peter Jung betont. Um das Housing First-Projekt auf breitere Füße stellen zu können, bemühten sich die beteiligten Akteure in Neuwied schon in der Vergangenheit um Fördermittel aus Mainz – und scheiterten zunächst daran, dass das Landesförderprogramm keine Gelder für bereits bestehende Projekte vorsah. Nachdem die Förderkriterien gelockert wurden, bewarb sich Neuwied erneut und stellte das Projekt im vergangenen März dem damaligen Sozialminister Alexander Schweitzer vor – und das mit Erfolg: 75.000 Euro stellt das Land dem Caritasverband für das Neuwieder Housing First Projekt für den Projektzeitraum jährlich zur Verfügung. Um die erforderlichen 1,5 Stellenanteile ausfinanzieren zu können, hat die Stadt Neuwied einen Anteil der Kosten übernommen – ein Teil der Kosten verbleibt beim Caritasverband. Der Fokus beim Ausbau des Neuwieder Housing First-Projekts liegt dabei auf obdachlosen Frauen, die mit ihren spezifischen Problemen eine besonders vulnerable Gruppe darstellen.
Ein Blick in die Zukunft
Damit das Housing First-Projekt in Neuwied auch in Zukunft weiter beschritten werden kann, wünscht sich Caritas-Direktor Eberhard Köhler vor allem eines: die Verstetigung der Unterstützung durch das Land. Ministerin Dörte Schall, die aus ihrer vorherigen Tätigkeit als Sozialdezernentin der Stadt Mönchengladbach gut mit dem Housing First-Konzept vertraut ist, sieht in diesem eine große Chance, die bisherige Systemlücke zwischen der Unterbringung in einer Notunterkunft und der eigenen Wohnung zu schließen. Allein die Tatsache, dass sich in Neuwied so viele verschiedene Akteure so intensiv mit der Lage von Menschen ohne festen Wohnsitz auseinandersetzen – einer Gruppe, die in der großpolitischen Gemengelage viel zu oft übersehen wird – lässt Lana Horstmann hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.