Der Spitzenkandidat der Freien Wähler zur Europawahl, Joachim Streit, kommentiert eine aktuelle Studie "Clankriminalität" der Technischen Universität Berlin in einer Weise, die mich zum Widerspruch einlädt. Dass sich Mehrheitsgesellschaft und Wissenschaft entfremden, ist so nicht richtig. Mehrheitsgesellschaft und Wissenschaft sind sich schon immer eher fremd gewesen. Gerade während der Corona-Pandemie hat es sich deutlich gezeigt, dass die akademische Binsenweisheit, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisse vorläufig und letztlich nicht bestätigbar, aber umso einfacher widerlegbar sind (Falsifikationsprinzip als Regel der Wissenschaftstheorie), von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft eher nicht verstanden wird, wurden doch erste Ergebnisse zu Corona von zu vielen Menschen als endgültig und unumstößlich aufgefasst, so dass Frustration entstand, wenn erste Erkenntnisse durch weitere Untersuchungen relativiert oder sogar ganz in Frage gestellt wurden.

Ist von kriminellen Clans und arabischen Großfamilien die Rede, geht es meist um die auch als kurdisch-libanesische Clans bezeichneten Mhallamiye-Kurden, die im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungsarbeit stehen. Die arabischsprachigen Mhallamiye-Kurden flüchteten vor etwa 100 Jahren aus wirtschaftlichen Gründen aus ihren Dörfern in der Türkei in die libanesische Hauptstadt Beirut, wo sie, nicht willkommen, gettoisiert wurden, was den engen Zusammenhalt untereinander bewirkte bzw. aufrecht erhielt. Während des libanesischen Bürgerkriegs setzte vor über 40 Jahren eine Flüchtlingswelle nach Westdeutschland ein. Die sehr restriktive Integrationspolitik begünstigte bei den Mhallamiye-Kurden das Festhalten an vertrauten Clanstrukturen. Wenn Joachim Streit kundtut, niemand werde dazu gezwungen, kriminell zu sein, und wer in Europa leben wolle, habe die Verantwortung für seine Entscheidungen selbst zu tragen, wird das der Vielschichtigkeit der Problematik keineswegs gerecht. Da man dazu ein Buch schreiben könnte, will ich es dabei belassen, durch zwei einfache Beispiele zum Nachdenken anzuregen:

1. Wenn in Berlin ein Jugendlicher von einem Kontrolleur in der U-Bahn ohne gültigen Fahrausweis erwischt wird und der Blick auf den Personalausweis zeigt, dass der Erwischte einen der bekannten Clan-Nachnamen hat, knickt der Kontrolleur oft, allzu oft ein und verzichtet darauf, seinen Job zu machen. Die Erfahrung, die dieser Jugendliche auf diese Weise macht, ist zweifelsfrei kriminalitätsfördernd. Gewiss, niemand wird dazu gezwungen, kriminell zu sein. Aber deutsche Feigheit kann dabei helfen.

2. Der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban, der lange die Beratungsstelle für Araber beim Diakonischen Werk in Berlin leitete, hat auf die Schwierigkeiten von Mhallamiye-Kurden, die sich vom Clan abwenden wollen, hingewiesen. Mit dem bekannten Clan-Nachnamen werden sie bei der Jobsuche diskriminiert. Inkognito-Bewerbungsverfahren (keinen Namen, kein Foto) wären hilfreich.

Abschließend möchte ich nur kurz erwähnen, dass etwa die italienische Strafjustiz auf die deutsche Politik nicht gut zu sprechen ist. In Italien ist die Einziehung illegal erworbenen Vermögens recht gut geregelt, während Deutschland im Unterschied dazu für das organisierte Verbrechen immer noch ein Eldorado ist. Hier liegt also eine „Schuld“ des deutschen Gesetzgebers vor, wenn man denn diesen Begriff benutzen will. Wenn sich die von Joachim Streit kritisierte Studie der TU Berlin zu „Clankriminalität“ wirklich auf die schlichte Aussage reduzieren ließe, die deutsche Mehrheitsgesellschaft sei aufgrund des strukturellen Rassismus am Treiben krimineller Clans schuldig, und sie tatsächlich nicht mehr an Erkenntnissen zu bieten hat, dann wäre diese Studie auf jeden Fall unterkomplex, einfältig. Dann würde ich sie allerdings auch nicht als wissenschaftliche Studie bezeichnen, sondern als Murks. Gestümper ist aber an vielen Stellen „handfeste Realität“ und sicherlich kein akademisches Vorrecht.