Der Holocaust-Überlebende Ernst Krakenberger spricht an den vier Berufsschulen in Neuwied über seine Erfahrungen in der Nazizeit.

(Foto: Julia Steffenfauseweh) Am Ende wird es noch einmal ganz still in der Aula.  Als Ernst Krakenberger erzählt, wie seine Mutter beim Anblick der schicken neuen Lederstiefel seiner Ehefrau irgendwann in den 60er Jahren die Fassung verliert und ruft: „Zieh sofort die Stiefel aus!“, ahnen viele Jugendliche in der Aula der BBS Heinrich-Haus den Grund: „Frauen in Stiefeln haben meine Mutter immer an das Konzentrationslager erinnert. Genau wie sie es ein Leben lang nicht mochte, an einem Buffet zu essen. Das Anstehen in einer Reihe, um Essen zu bekommen, hat Erinnerungen an die schlimme Zeit ausgelöst“, erzählt Ernst Krakenberger.

Ernst Krakenberger ist 84 Jahre alt. Seine Eltern haben vier Konzentrationslager überlebt. Er selbst verbrachte die ersten viereinhalb Jahre seines Lebens versteckt bei einer katholischen Familie in den Niederlanden. Seine Lebensgeschichte erzählt er heute vielen Schülerinnen und Schülern in ganz Deutschland. In der vergangenen Woche kam er auch nach Neuwied, wo er zu Schülerinnen und Schülern der Berufsschulen sprach: als Gast an der Berufsbildenden Schule (BBS) Heinrich-Haus, der Ludwig-Erhard-Schule (LES), der Alice-Salomon-Schule (ASS) und der David-Roentgen-Schule (DRS). Die vier Neuwieder Berufsschulen arbeiten bereits seit längerer Zeit intensiv zusammen, insbesondere in ihrem Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Besuch von Ernst Krakenberger wurde durch den Verein „Haus Israel Neuwied“ ermöglicht und von der BBS Heinrich-Haus koordiniert.

Foto: Julia Steffenfauseweh

Den Jugendlichen berichtet Ernst Krakenberger, wie seine jüdischen Eltern 1939 von Nürnberg aus in die Niederlande flohen, wie er selbst dort im Dezember 1940 geboren wurde, und wie seine Eltern entschieden, das Baby bei Bekannten zu verstecken. Die Furcht der Mutter, dass ihr Kind eine mögliche Gefangenschaft nicht überleben würde, war zu groß. Ernst Krakenberger liest einen Brief vor. Diesen hat ihm die Familie Stockmann, die ihn über viele Jahre hinweg bei sich aufgenommen und großgezogen hat, zu seinem 50. Geburtstag geschrieben. „Ich selbst kann mich nicht erinnern. Und meine Eltern haben nie über die Zeit im KZ gesprochen“, erzählt der 84-Jährige. „1945 standen sie auf einmal vor der Tür. Von da an lebte ich dann plötzlich bei meinen Eltern.“. Auf die Frage, wie das für ihn war, ergänzt er: „Ich wurde dazu erzogen, keine Emotionen zu zeigen.“
Die ein oder andere Episode aus dem Brief hat aber dennoch seine Spuren hinterlassen. Das Leid der Menschen in den Niederlanden während der deutschen Besatzung, die Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Hungerwinter 1944/1945 sind nicht spurlos an dem Kleinkind Ernst Krakenberger vorübergegangen. „Auch wenn ich mittlerweile seit 1966 in Deutschland lebe – den deutschen Pass wollte ich nie haben. Die Niederlande waren gut zu mir. Ich bleibe Niederländer.“ Ein Niederländer, den es irgendwann doch nach Deutschland, in die Geburtsstadt seiner Eltern zieht. Neun Stolpersteine erinnern in Nürnberg an neun direkte Verwandte der Familie, die die Naziherrschaft nicht überlebt haben. „Die Steine sind eine Erinnerung daran, was passiert, wenn gute Menschen zur Seite schauen.“
Es sind diese vermeintlich kleinen Dinge, die Ernst Krakenberger am Ende seines Vortrags erzählt, die am meisten im Gedächtnis bleiben. Die Abneigung des Buffet-Essens, die Angst vor Stiefeln und die Antwort auf die Frage eines Jugendlichen: „Was antworten Sie den Menschen, die den Holocaust leugnen?“ – „Diese Menschen sollten einmal in ihrem Leben nach Ausschwitz gehen. Dann werden Sie sehen!“
Die Schülerinnen und Schüler der berufsbildenden Schulen wussten die Zeit mit dem Holocaust-Überlebenden zu schätzen, stellten viele Fragen, unter anderem auch nach seiner Meinung zur politischen Lage heute. Ernst Krakenberger ist der festen Überzeugung, dass die Zeit des Holocaust nicht wiederkommt. Wie wichtig es ist, davon zu erzählen und die Erinnerung aufrecht zu erhalten, hat er mit seinem Besuch in Neuwied eindrücklich bewiesen.